Staatsstreich in Tunesien

Aktuelle Informationen zur Sicherheit in Tunesien
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Rolf
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Staatsstreich in Tunesien

Ungelesener Beitrag von Rolf »

Der "Oberste Rat der Jugend" in Tunesien hat die tunesische Jugend für den 25.Juli zu Protestmaßnahmen unter dem Thema "Geht hinaus, nehmt Euer Heimatland zurück" aufgerufen.

Die Liste der Forderungen des Rates lautet:

- Inkraftsetzen der Verfassung von 1959, militärische Übergangsperiode von 6 Monaten für die Vorbereitung von Neuwahlen.
- Schließung der Landesgrenzen für 1 Monat, Übernahme der Governorate durch einen höheren Offizier des Heeres, Beiordnung von Militäroffizieren zu allen Ministerien
- Ausrufung von Kais Saed (der derzeitige Präsident) zum Staatspräsidenten und Führung des Landes durch ihn und den Obersten Rat der Jugend für die Dauer der Übergangsperiode von 6 Monaten.
- Installierung eines Jugendrates mit zwei jungen Männern und einer (!) jungen Frau aus jeder Delegation des Landes.
- Inhaftierung der Politiker der letzten 10 Jahre und Beschlagnahme ihrer Vermögen, Zusicherung eines fairen Gerichtsprozesses.


Zu den Initiatoren ... nun, ich habe von denen noch nie gehört, und eine Suche ergab nur, daß es eine solche Gruppierung in Mauretanien gibt. Das muß ja nichts negatives sein, daß man sich eine Gruppe in einem anderen Land zum Vorbild nimmt, doch wie gesagt, bisher ist die Gruppe noch nicht so in Erscheinung getreten, daß ich es bemerkt hätte. Einen kleinen Hinweis gibt es auf eine Veranstaltung von vor einigen Wochen, die wohl unter der Schirm des OECD in Hammamet abgehalten wurde.
Demzufolge kann ich es auch nicht einordnen, wer wohl hinter dieser Gruppierung steckt, weder finanziell, noch politisch.

Was die Forderungen betrifft, sieht mir das Ganze sehr militärbezogen aus, interessant auch, daß der derzeitige Präsident beibehalten werden soll.

Der ist zwar bei der Bevölkerung recht beliebt, aber bei den Politikern eher weniger, und ich selbst habe, aus der Episode, in der er sich vor einigen Wochen noch als Vorgesetzter der Polizei bezeichnete (was er nicht ist) und der, in der er die Besetzung des Verfassungsgerichtes ablehnte (Tunesien hat nach wie vor kein Verfassungsgericht!), eher den Eindruck, daß er gewisse Ambitionen hegt.
Hier könnte in der Tat ein Hintergrund liegen - daß der Präsident nämlich versucht, sich eine Hausmacht aufzubauen (denn er selbst gehört ja keiner politischen Partei an) und hat vielleicht nun die Jugend für diesem Zweck entdeckt.

Dieser Aufruf scheint jedenfalls schon recht vielen jungen Tunesiern bekannt zu sein - das Papier wird wohl in den gemeinschaftlichen Medien häufig mit Anderen geteilt. In der Presse gibt es bislang keine Reaktionen dazu, die versuchen wahrscheinlich ebenfalls, herauszufinden, was da wohl hinter stecken mag.

Ich bin davon überzeugt, daß es zu diesem Thema bald noch weitere Informationen geben wird - und vielleicht ist es die, daß das ganze ja nur ein Scherz gewesen sei ... oder vielleicht ein Test, um herauszubekommen, wie die Jugend wohl reagiert. Auf der anderen Seite aber könnte sich die Angelegenheit auch schnell verselbständigen oder andere Akteure anziehen.

Jedenfalls liegt wieder einmal (mehr) das Wort "Aufstand" in der Luft, und ich glaube, daß es früher oder später auch dazu kommen wird, um damit, nach der Meinung der Akteure, zu bewirken, Tunesien aus der derzeitigen verfahrenen Situation an mehreren Fronten herauszuholen.
Zu unzufrieden sind die Tunesier mit der Regierung und den politischen Akteuren insgesamt. Zu düster sieht die Lage der Staatsfinanzen Tunesiens aus - und zu sehr treten die ökonomischen und sozialen Probleme nicht nur der "Armen", sondern mittlerweile auch der tunesischen Mittelschicht zutage.

Ob es diesmal so weit sein wird, das kann mit Fug und Recht bezweifelt werden - doch wird das morgen, nächsten Monat oder nächstes Jahr auch noch so sein?
Walter
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Re: Aufruf zum Aufstand der Jugend

Ungelesener Beitrag von Walter »

Dazu passt eventuell diese Veröffentlichung.

Medien berichten das die Ennahdha Partei einen Ministerwechsel auf die Tagesordnung setzt. Sie wollen ihre Anhänger
in Ministerämter bringen um wenn möglich, den Regierungschef bzw den Präsidenten zu stellen.

https://www.leconomistemaghrebin.com/20 ... 9/attente/
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Rolf
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Re: Aufruf zum Aufstand der Jugend

Ungelesener Beitrag von Rolf »

Und ...

an dem Tag, an dem die Protestmaßnahmen stattfanden, in mehreren Städten Tunesiens, lichtet sich nun auch der Nebel. Wie ich es schon vermutet hatte, steckt der Staatspräsident mit größter Wahrscheinlichkeit dahinter und benutzt die Protesaktionen nun für eine/n - ja, wie soll man es nennen - Putsch, nationale Heldentat - oder, ganz banal, ein "Staatsstreich von oben", so es in Venzuela auch Präsident Maduro 2017 gemacht hatte?

Der Staatspräsident Kais Saied enthob heute den Premierminister seines Postens, hob die Immunität der Abgeordneten des Parlaments auf und will zukünftig mit Präsidialdekreten regieren (die Regierung bleibt, bis auf den Premierminister, noch als "beratendes Gremium" erhalten - ein neuer Premierminister soll aber bald ernannt werden und "an der Seite des Staatspräsidenten" stehen).
Zusätzlich will er die "Reform der Justiz" vorantreiben, indem er selbst der Staatsanwaltschaft vorsteht und indem der Prozesse gegen Parlamentsmitglieder führt.
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Rolf
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Re: Aufruf zum Aufstand der Jugend

Ungelesener Beitrag von Rolf »

Grundlage seiner Handlung ist der Paragraf 80 der tunesischen Verfassung, den ich im folgenden aufführe (Google-Übersetzung mit Korrekturen von mir):


Im Falle einer unmittelbaren Gefahr, die die Staatsorgane, oder die Sicherheit oder Unabhängigkeit des Landes bedroht und das normale Funktionieren des Staates behindert, kann der Präsident der Republik nach Anhörung des Regierungschefs und des Sprechers der Versammlung der Volksvertreter, alle aufgrund außergewöhnlicher Umstände erforderlichen Maßnahmen treffen und den Präsidenten des Verfassungsgerichts darüber informieren. Der Präsident gibt die Maßnahmen in einer Erklärung dem Volk bekannt.

Die Maßnahmen sollen so bald wie möglich eine Rückkehr zum normalen Funktionieren der staatlichen Institutionen und Dienste gewährleisten. Die Versammlung der Volksvertreter gilt während dieses Zeitraums als in ständiger Sitzung. In dieser Situation kann der Präsident der Republik die Versammlung der Volksvertreter nicht auflösen und ein Misstrauensantrag gegen die Regierung kann nicht eingereicht werden.


Dreißig Tage nach Inkrafttreten dieser Maßnahmen und jederzeit danach kann der Präsident der Versammlung der Volksvertreter oder dreißig ihrer Mitglieder das Verfassungsgericht anrufen, um zu prüfen, ob die Umstände weiterhin außergewöhnlich sind. Der Gerichtshof entscheidet darüber und verkündet diese innerhalb einer Frist von höchstens fünfzehn Tagen.

Diese Maßnahmen treten außer Kraft, sobald die ihre Durchführung rechtfertigenden Umstände entfallen sind. Der Präsident der Republik richtet eine entsprechende Botschaft an das Volk.


Zum Paragrafen 80 der Verfassung ist zu sagen, daß der Sprecher der Versammlung der Volksvertreter, also der Parlamentspräsident Ghannouchi sich gerade - wie praktisch - im Krankenhaus befindet und dort auch die nächsten Tage noch verbleiben wollte. Da entfällt wohl die Anhörung, ebenso wie beim Premierminister, der ja seiner Aufgaben enthoben wurde.
Und das Verfassungsgericht - nun ja, das gibt es gar nicht, weil der Staatspräsident seit Monaten Ernennungen verweigert . wie vorausschauend - und zwar mit der Begründung, daß das Verfassungsgericht ja schon lange hätte ernannt werden müssen (völlig korrekt), doch jetzt sei es zu spät dafür.

Mit anderen Worten - Kais Saed besetzt oder kontrolliert nun alle Funktionen, die in einer Gewaltenteilung in einem Rechtsstaat aus gutem Grund getrennt sind: die Legislative, die Administrative und die Justiz - und das bei Abwesenheit eines Verfassungskontrollorgans.

Daß viele Tunesier dies gut finden werden, ist unbestritten, denn der Staatspräsident gehört ja keiner politischen Partei an und kann insofern nicht für die Fehler der Politiker verantwortlich gemacht werden - doch ein Diktator bleibt ein Diktator, auch wenn er vorgibt (und tun das nicht alle) zum Besten der Untertanen zu agieren. Die Demokratie ist jedenfalls erst einmal suspendiert in Tunesien, gemäß der Verfassung für 30 Tage, und danach, so lange der Staatspräsident das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände behauptet, denn eine Kontrolle durch das Verfassungsgericht ist ja nicht möglich.

Ob dieser Schritt Tunesien hilft, sich aus dem Loch, in dem es sich befindet, und zwar in sozialer wie in ökonomischer Sicht, zu befreien, das bleibt abzuwarten. Ich persönlich habe jedenfalls nicht den besten Eindruck von Kais Saied, spätestens nicht mehr, seit er die Kontrolle über die Polizei für sich beanspruchte, nachdem er die Besetzung des Verfassungsgerichtes verhindert hatte, nachdem er eine Umbildung der Regierung verhindert hatte, ...

Doch, wer weiß, vielleicht täusche ich mich ja, und er wird, nach kurzem und harten Eingreifen, schnell wieder (nur noch) seinen Posten als Staatspräsident - und genau die damit verbundenen Rechte und Pflichten - ausüben.
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Re: Aufruf zum Aufstand der Jugend

Ungelesener Beitrag von Rolf »

Weitere Nachrichten:

-Der Chef der Präsidentengarde, ein höherer Militäroffizier hat den Posten des Innenministers übernommen (ganz so, wie es in dem "Aufruf" geschrieben stand).

- Der frühere Präsident Marzouki nennt die Handlungen des Staatspräsidenten einen "Staatsstreich" und nennt die Vereinigten Emirate als Hintermänner.

- Das Militär ist ausgerückt und hat den Sitz des Premierministers umstellt. Der hat derweil das Gebäude verlassen und wurde an ein unbekanntes Ziel gefahren.

- Es wurde angeordnet, daß der Parlamentspräsident und 64 Abgeordnete, gegen die Rechtstsreitigkeiten anhängig sind, Tunesien nicht verlassen dürfen.
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Re: Aufruf zum Aufstand der Jugend

Ungelesener Beitrag von Rolf »

Vorgestern wunderte sich die tunesische Presse, daß in Tunis auf einmal überall Polizeiposten zu finden waren, die mit der Begründung Covid-Maßnahmen durchsetzen zu wollen, alle Personen kontrollierten, die (am Samstag/Sonntag!) in das Stadtzentrum wollten, während die Ausflügler, die sich zum Strand aufmachten, völlig unbehelligt blieben. Nun, zumindest dieses Rätsel ist ja jetzt gelöst, da ging es offensichtlich darum, zu wissen, wer sich, von außerhalb kommend, in der Stadt aufhält. :-)
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Re: Aufruf zum Aufstand der Jugend

Ungelesener Beitrag von Rolf »

- Der Parlamentspräsident Ghannouchi hat bestätigt, daß der Staatspräsident mit ihm gesprochen habe, jedoch nur über allgemeine Themen, nicht darüber, wie es die Verfassung verlangt, daß Paragraf 80 der Verfassung angewendet werden soll. Ghannouchi berät derweil mit der Partei Ennahdha über die Reaktion auf die aktuelle Situation - was wohl bedeutet, daß er sich nicht mehr im Krankenhaus aufhält und auch auch keinen Genesungsurlaub antritt...

- Auf den Straßen zumindest in Tunis jubeln und feiern Einwohner die Machtübernahme des Staatspräsidenten.

- Auch der Parlamentspräsident bezeichnet die Handlung des Staatspräsidenten als "Putsch".

- An den Flughäfen und Seehäfen ist die Lage derzeit unklar, einige Quellen behaupten, daß der Flug- und Schiffsverkehr ab Mitternacht eingestellt wären, während der Präsidentenpalast dies verneint.

- Gestern tagsüber und abends nach der Rede des Präsidenten wurden verschiedene Büros der islamischen Partei Ennahdha geplündert und zerstört.

- Die Abgeordnete der Partei Attayar, Abbou, sagte in einem Interview, daß die Handlungen des Präsidenten gerechtfertigt waren. Sie sagte weiterhin, daß diejenigen, die sich nun dagegen stellten, die wirklichen Putschisten seien. Sie betonte, daß die Bevölkerung durch die Proteste gestern ja gezeigt hätten, daß sie das wollten, was der Staatspräsident nun durchführt (wird jetzt der Protest instrumentalisiert ... oder müssen wir besser sagen: es läuft, wie geplant?).
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Re: Aufruf zum Aufstand der Jugend - Staatsstreich Tunesien

Ungelesener Beitrag von Rolf »

- Ein Richter hat bestätigt, daß der ehemalige Premierminister festgesetzt wurde.

- Die islamische Partei Ennahdha, stärkste Partei im derzeitigen Parlament (ca, 20% der Stimmen, ein Viertel der Sitze), hat ihre Anhänger dazu aufgerufen, zum Parlamentsgebäude zu kommen und die Revolution (damit ist die gegen Ben Ali gemeint) und den Willen des Volkes zu verteidigen. Dem Parlamentspräsidenten, sowie seiner Stellvertreterin, wurde der Zugang zum Parlament durch Soldaten verweigert. Die Soldaten gaben an, "einem Befehl zu folgen" und das Mutterland zu schützen.

- Vor dem Parlament stehen Polizeiwagen, innerhalb des Parlaments haben Soldaten Position bezogen.

- Vor dem Parlamentsgebäude kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Parlamentariern und Bürgern.

- In vielen Städten Tunesiens brachten Bürger auf den Straßen ihre Unterstützung des Staatspräsidenten lautstark zum Ausdruck, einigen Berichten zufolge handelte es überwiegend um junge und mittelalte Bürger.
Beteigeuze
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Re: Staatsstreich in Tunesien

Ungelesener Beitrag von Beteigeuze »

Hallo Rolf,
ich möchte einfach mal herzlichen Dank sagen für die stets kompetenten Informationen deinerseits!
Das finde ich sehr wertvoll.
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Re: Staatsstreich in Tunesien

Ungelesener Beitrag von Rolf »

- In der tunesischen Presse sind heute viele Beiträge zu finden, die zwar die Handlungen des Staatspräsidenten einen Putsch oder Staatsstreich nennen, aber dennoch, vor dem HIntergrund der Lage in Tunesien, Verständnis dafür ausdrücken. Es wird jedoch auch darauf hingeweisen, daß die weiteren Ereignisse genau beobachtet werden müssen, damit nicht eine Diktatur, womöglich schlimmer als die des früheren Präsidenten Ben Ali, entstehen wird.

- Die Gewerkschaft UGTT hat noch nicht reagiert, einige Parteien unterstützen den Staatspräsidenten, andere verurteilen den Staatsstreich.

- Das Büro des Nachrichtensenders Al Jazeera in Tunesien wurde ohne Vorwarnung geschlossen.

- Frankreich warnt seine Bürger in Tunesien, sich von Ver/Ansammlungen fernzuhalten und wachsam zu sein.

- Der Zutritt zum Regierungsgebäude wurde untersagt.

- Vor dem Parlamentsgebäude kommt es weiterhin zu Auseinandersetzungen, diesmal zwischen Bürgern und Anhängern der Ennahda-Partei.
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